Die Zeit und ihr Zeuge

Geschichte aus erster Hand – unsere erste Schlachtfeldführung mit einem Zeitzeugen

Das Interesse ist riesig, der Andrang enorm und der Parkplatz an der Gedenkstätte voll mit den Autos der Besucher aus dem ganzen Bundesgebiet. Sie kommen aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Braunschweig, Leipzig, Riesa, um an unserer ersten Schlachtfeldtour mit einem Zeitzeugen teilzunehmen. Nach dem Beginn an der Gedenkstätte, mit dem Besichtigen des Denkmals, des Soldatenfriedhofs und des T34, geht es per Konvoi an die Oder. Am historischen Ort erzählen wir unseren Gästen vom Beginn der Kämpfe Anfang 1945. Unser besonderer Gast für diesen Tag stellt sich zur Mittagszeit im Reitweiner Heiratsmarkt vor. Heinz Mutschinski ist am Ende des Krieges zwanzig Jahre alt und Unteroffizier in einer Infanterieeinheit der Wehrmacht. Ruhig, klar, ohne große Gesten, dafür umso eindringlicher, erzählt er von seinen Erlebnissen. Gebannt lauschen die Besucher seinen Erinnerungen. Kein Husten, Räuspern, Füßescharren oder Flüstern ist zu hören, niemand wischt auf Handys. Manche scheinen nicht mal mit der Wimper zu zucken, als fürchteten sie, dadurch etwas zu verpassen.

 

Erzähle vom Krieg

Es sind Geschichten aus einem längst vergangenen Krieg – ein ganzes Menschenleben her. Die Besucher kennen solche Erzählungen meist nur aus Büchern, Filmen, Reportagen. Einem Menschen von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, der diese Zeit erlebt hat und davon berichtet, das ist für viele neu. Es ist auch sehr anders, als Geschichte in üblicher Art aus zweiter, dritter oder zigster Hand zu erfahren, wohl geformt, gedankenvoll und faktensatt aus- und abgewogen, temperiert und formatiert. Und es ist selten. Viele sind hier, weil sie das Schweigen der eigenen Groß- und Urgroßväter fragend gelassen hat oder weil sie zu klein waren, das oft nur spärlich Erzählte zu verstehen und zu jung, um die für sie heute immer noch wichtigen Fragen zu stellen. Später war es dann zu spät dafür. Opa erzählt vom Krieg. Nichts.

 

Die Hölle überleben

Heinz Mutschinski hat nicht nur überlebt; er ist auch älter geworden, als viele seiner Generation. Er ist dem Tod vier mal von der Schippe gesprungen; und das an einem einzigen Tag. Seit dem traut sich der Tod nicht mehr an Heinz Mutschinski ran. Vielleicht erklärt das, warum er mit 92 lebhafter wirkt, als so mancher 72Jährige. Erschöpft wirkt er nach einer Stunde nicht, auch nicht zwei Stunden später. Heinz Mutschinski erzählt von einem Kampf, den er nicht gewinnen konnte und für den es nur zwei Optionen gab: Verlieren und Sterben oder Verlieren und Überleben. „Hitler ging uns am Arsch vorbei. Für uns ging es darum, heil hier raus zu kommen.“ Das Hier sind ein Acker und ein Wäldchen bei Klessin. Mutschinski steht genau da, wo er gekämpft und verloren hat; aber sein Leben behalten, getroffen, angeschossen, verletzt, blutend. Es ist kein Bericht aus dem heimischen Wohnzimmer oder aus einem gut ausgeleuchteten TV-Studio, sondern genau von da, wo es passiert ist. Heinz Mutschinski erzählt vom Grauen und, wie er damals damit fertig wird, wie er sich im Trommelfeuer flach auf den Boden seines Grabens legt und kleine Häuser aus Erde formt, „ein richtiges kleines Dorf“, um nicht den Verstand zu verlieren. Über und um ihn herum bebt die Erde, brechen tausende Granaten die Oberfläche auf. Explosionsdruck und Splitter sollen alles vernichten, was dort noch lebt und kauert. Das Sturmgewehr bettet er auf sein ausgebreitetes Taschentuch. Es soll nicht auf dem blanken Grabenboden liegen. Dann legt er sich darüber und schützt die Waffe mit seinem Körper. Er weiß, daß dieses Gewehr gut ist, das modernste, was ein deutscher Soldat in der Hand halten kann. Es soll nicht, es darf nicht verschmutzen. Diese Waffe kann ihm das Leben retten. Als es soweit ist, versagt sie. Es ist eine Geschichte von vielen, die uns ahnen lassen, was Krieg bedeutet, wenn er auf das Maß eines Schützenlochs und damit auf die Dimension des Einzelnen zusammenschmilzt.

 

Zeugnis geben

Darum bilden die Besucher einen dichten Kreis um den alten Mann. Ihre Augen haften an seinen Lippen – nichts verpassen von den Worten, an denen der Wind unablässig zerrt. Hier, am härtest umkämpften Ort der Oderfront, ist es meist zugig. Die Besucher fragen, Heinz Mutschinski antwortet. Es gibt kein Drehbuch, keinen zurechtgeschnittenen O-Ton, kein Konzept, zu dem das Gesagte passen soll. Fragen und Antworten kommen ohne Scheu. Mutschinki spricht so, als rede er mit Menschen, die er gut kennt. Fragen stellen und den Aufwand nicht meiden, um Antworten zu erhalten, sich ernsthaft interessieren für ein Leben, das lange vor dem eigenen liegt. Das ist heute nicht mehr üblich. Passiert es, wie hier, schafft es ein beiderseitiges Vertrauen.

 

Eingekapselte Erinnerung

Wie so viele, spricht auch Heinz Mutschinski  jahrzehntelang nicht über diesen Ort und diese Zeit. Seine Erinnerungen kapselt er ein. Jetzt vergeht kein Jahr, ohne dass er hier ist. Wo er einst im Dreck lag, in Todesangst, wo Kameraden starben, streut er Blumensamen aus. Wüßten wir nicht, was hier war, die Landschaft wirkte fast belanglos auf uns in ihrer Beschaulichkeit. Auf den umliegenden Feldern sprießt das Korn. Unter der Krume liegen Tote, noch immer. Heinz Mutschinski ist bei jeder Grabung des Vereins zur Bergung Gefallener in Osteuropa VBGO im Oderland dabei; ist selbst Mitglied. Seine Vergangenheit läßt sich aus der Erde kratzen. Und die seiner einstigen Gegner. Mutschinski erzählt von Begegnungen mit ehemaligen Rotarmisten. Damals liegen sie sich nicht mal 30 Meter voneinander entfernt gegenüber und hören die fremden Worte des anderen. Es gilt, er oder ich. Heute liegen die Toten zusammen in der Erde und die Überlebenden liegen sich weinend in den Armen. Klessin ist eine Episode in Mutschinskis langem Leben, ein paar Wochen nur. Aber diese Frist ist voll mit Tod und Verderben. Das ist sehr weit weg von unserer hiesigen, satten, verwöhnten Welt und doch sehr nah, wenn wir nur genauer hinschauen wollen.

Glaubhaftes Erzählen

Keiner würde es dem Mann verdenken, wäre er nie mehr hierhin zurückgekehrt. Heute ist er da und gibt uns etwas, was sich nicht kaufen, abonnieren, runterladen oder streamen läßt. Wir kennen die Botschaft aus Radio und Fernsehen, hören sie an Gedenktagen, in Schulen und Universitäten. Und jetzt steht allein dieser alte Mann vor uns, lächelt uns mit wachen Augen an und sagt dasselbe „Nie wieder Krieg!“. Warum erscheint dieser flüchtige Moment so viel glaubhafter, als alle unsere, mit Millionen Euro reproduzierbare, gesellschaftliche Bemühtheit um diese Erkenntnis?
Aus den üblichen sechs Stunden Schlachtfeldtour werden letztlich zehn. Erst die über das Oderbruch aufziehende Dunkelheit läßt uns Abschied nehmen von diesem besonderen Ort.

T. Voigt

Bilderreihe