8. Mai 2020 – Ein Abschied

Gedenken in Corona-Zeiten. Am 75. Jahrestages begleiten wir einen der letzten Zeitzeugen der Schlacht um die Seelower Höhen auf seinem Besuch im Oderland.

Der alte Herr am Telefon klingt entschieden und sicher: „Ich möchte kommen.“ Es ist Wochen vor dem 8. Mai. Deutschland ist im Corona-Koma, oder Taumel, oder Fall – je nach Perspektive und Betroffenheit. Aufenthaltsbeschränkungen, Kontaktverbote, geschlossene öffentliche Einrichtungen, abgesagte Veranstaltungen. Viren-Podcasts und Sondersendungen jagen seit Wochen mit „Schwer-“ und „Brennpunkten“ um die Wette. Große Teile der Wirtschaft stehen still und ein Großteil der Deutschen sitzt daheim, im „home office“, mit gebunkerten Vorräten, gestresst von gelangweilten Kindern, denen die Freunde fehlen, der Spielplatz, die Freiheit des Kindseins. Kein Krieg – Corona. Der Feind ist für das Auge unsichtbar. Der Zweite Weltkrieg und sein Ende 1945 sind sehr weit weg. Dabei sollte es, so sieht es der Gedenkkalender nun mal vor, zum 75. Jahrestag ganz anders sein. Würdiges Gedenken, Trauerrituale, die letzten Zeitzeugen, Gedenkkonzerte, Gedenkveranstaltungen, Sonderausstellungen und, und, und.

Ein letztes Mal Schlachtfeld

Den 93jährigen Wolf-Dietrich Kroll beschäftigt anderes. Abschließen, Schluss machen, Abschied nehmen – es soll ein letzter Besuch sein, hier auf dem, auf ’seinem‘ Schlachtfeld.

An der Gedenkstätte Seelower Höhen treffen wir uns. Es sind viele Autos da und viele Besucher. Alle sind jünger als Kroll. Keiner hat den Krieg erlebt. Auch der ältere Herr mit weißem Vollbart und Che Guevara-Barett nicht, der uns auf dem Weg zum sowjetischen Denkmal entgegenkommt. Den Flaggenstock mit einer Kuba-Fahne, die fast so lang ist wie er selbst, hat er geschultert. Jeder gedenkt etwas anderem. War Che Guevara hier, oder Fidel Castro? Mitte Dezember 1941 erklärt Kuba Deutschland den Krieg. Kampfhandlungen zwischen beiden Ländern gibt es nicht. Castro und Guevara sind damals Teenager und Kubas gewählter Präsident Batista regiert mit einer fortschrittlichen Verfassung, pflegt diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion und tritt der Anti-Hitler-Koalition bei. Kaum zwanzig Jahre später werden Castro und Guevara den zum Diktator mutierten Batista stürzen, um selbst eine Diktatur zu errichten. Die Nationalfahne bleibt. Wolf-Dietrich Kroll ist wegen dem hier, was hier war. Und weil er dabei war.

Der Himmel über der Hölle

Das Wetter, der Jahrestag, der Ort. Ein endlos blauer Himmel lenkt von Kuba und vom morbiden Ambiente ab. Hoch über Schichten welken Herbstlaubs, Moosteppichen unter sowjetischen Exponaten, vertrockneten Rabatten und Rostnestern zwischen verblichener Tarnfarbe strahlt blauer Himmel. Siegerwetter. Sonne. Sie scheint auch auf den alten Filmaufnahmen von 1945, ob München, ob Berlin, der Sommer nach dem Ende strahlt, als wäre nichts gewesen. Trotz Corona und wegen der Lockerungen zieht es die Menschen zum Gedenkort auf den Seelower Höhen. Wann, wenn nicht an diesem Tag? Das Mini-Museum zur Mega-Schlacht auf deutschem Boden ist geschlossen. Irritierte Besucher. Komische Volte an diesem Tag und diesem Ort: das Heute macht mehr Kopfschütteln als die Vergangenheit. Wolf-Dietrich Kroll kann sich die Tage nicht aussuchen, an denen er sich mit dem Krieg beschäftigt. Der Krieg beschäftigt ihn, mal tags, mal nachts, und das schon lange. Der 75. Jahrestag ist für ihn ein Anlass, nicht mehr und nicht weniger. Kroll ist jetzt 93 Jahre. 96 möchte er werden, wie sein „alter Herr“. Es sei Zeit, Abschied zu nehmen, erklärt er am Telefon im Vorfeld. Sohn und Schwiegertochter begleiten ihn, ihren „alten Herrn“. Drei Blumengestecke liegen im Kofferraum. Drei mal Blumen für drei Friedhöfe. Seelow, Golzow, Lietzen. Auf jedem könnten einstige Kameraden von Kroll liegen. Könnten. So wie viele, die namenlos begraben liegen. Jedes Gesteck zeigt andere Farben. Liebevolle Arrangements aus Rosen, Gerbera, Alium, Löwenmaul, Calla. Sie passen zum sonnigen Wetter, doch die Strahlen werden ihnen den Glanz ums so schneller nehmen. Vergängnis, Vergehen, Vergessen, Vergeben, Vergraben.

Der letzte Erzähler

Sonnenstrahlen wärmen auch den heimgekehrten Wolf-Dietrich auf seinem Marsch heimwärts. Am 2. Mai 1945 kapituliert General von Tippelskirch bei Ludwigslust vor den Amerikanern und knapp zwanzig Kilometer nördlich steht Kroll in Schwerin seiner völlig überraschten Mutter gegenüber – in voller Fallschirmjägermontur, mit dem Karabiner in der Hand. „Andere Mütter warteten vergeblich und wissen nicht einmal, wo ihr Sohn liegt.“, sagt Kroll, als er vor den Soldatengräbern steht. Es schüttelt ihn. Tränen fließen. „Ich weiß nicht, warum ich überlebt habe.“ Es klingt wie ein Selbstvorwurf. Ein Gefühl der Schuld, die keine ist und dafür umso grausamer nagt. Überlebt zu haben, wo andere gestorben sind. Warum? Keine Regeln. Kroll hat sie schreien hören, seine Kameraden. Nach der Mutter, nach Gott. Helfen sollte der. „Hat er ihm geholfen?“ fragt Kroll. „Er hat ihn erlöst von seinen Leiden.“, hilft eine Schülerin. Das Erzählen des alten Mannes rührt die wenigen, die mit der Gedenkstättenlehrerin hier sind, um diesem Tag an diesem Ort das zu geben, was zur Zeit eben möglich ist. Ein Gedicht vor dem Panorama des Schlachtfelds und neben den Reihen sowjetischer Soldatengräber, Dank an Wolf-Dietrich Kroll für seine Spende für die gedenkstättenpädagogische Arbeit, und Zuhören. Kroll erzählt, beschreibt, zeigt. Rangabzeichen, Kriegsauszeichnungen, sein altes Fallmesser, das amerikanische Luftbild vom April 1945. Golzow und Umgebung von oben: von Kratern perforierte und von Schützengräben durchzogene Felder, ein Ruinendorf. Mehrfach bricht seine Stimme. Die drei Schülerinnen stehen für viele, die Kroll hätten zuhören können, wenn keine Pandemie gekommen wäre.

Die Toten im Park

Vor Golzow liegt Wolf-Dietrich Kroll im April 1945 im Schützengraben. Er sieht sowjetische Panzer auf sich zurollen, fremde Soldaten angreifen, Kameraden neben sich sterben. Auf den Soldatengräbern des Golzower Friedhofs stehen keine Namen, die er kennt. Doch diese Toten sind seinen Toten am nächsten. Er zeigt uns auch die Stelle, wo sie damals ihre Kameraden beerdigt haben. Es ist ein ruhiger Ort am nördlichen Ende von Golzow. Privatgelände. Ein Gutshof, dem die einstige Größe an den Gebäuden anzusehen ist. Architektur der Gründerzeit. „Einhundertzehn Hektar“, sagt der Eigentümer mit leichtem Kopfschütteln. Es ist klar, was er meint. Das Pech seines Großvaters. Alles über einhundert Hektar wird in der Bodenreform nach 1945 als Großgrundbesitz enteignet. Zehn Hektar zu viel. Zehn Minuten zu spät. Zehn Zentimeter weg vom Tod. Der Nebenmann bricht zusammen. Kroll und drei Kameraden schleifen Tote auf Zeltplanen bis zum Gutshof, wo der „Spieß“, eine pfiffiger Hamburger, der nach Krieg wieder Boxer ist, sein Hauptquartier hat, und begraben sie im Park. Wenige Jahre nach dem Krieg macht Kroll eine Zeichnung von der Stelle, für die Suchanfrage beim Roten Kreuz. Seine damals frische Erinnerung auf dem heute vergilbten Papier trügt nicht. Nur die Gleise der Oderbruchbahn fehlen im Hier und Jetzt. Und die Toten sind lang schon umgebettet. Zielort unbekannt.

Im Strom

„Gefreiter Kroll meldet sich von der HKL zurück.“ So knapp heißt ‚Ich bin der Letzte; die anderen sind alle tot.‘ Im Gefechtsstand der Division am Rand von Gusow ist alles in Auflösung. Rückzug nach Westen. Weiterkämpfen, weiter Schutz suchen, weiter wegrennen, weiter sterben, weiter überleben. Kein Ende bis zum Ende. Als der besiegte, geschlagene Kroll nach Westen läuft, weg vom Oderbruch, von den Seelower Höhen, gerät er in den Strudel des letzten Kampfes. Die spärlichen Reste seiner ohnehin stets kläglich kleinen Einheit, verschwinden im „Endkampf“ der „Reichshauptstadt“. Gefallen oder Gefangen. Kroll hat Glück, erneut. Wie den Mann in Egdar Allen Poes „Hinab in den Malstrom“ zieht es ihn in Berlin nicht in den Orkus der Geschichte. Während sein Kompaniechef, Hauptmann von Majer, im Zentrum des Strudels am Reichstag in sowjetische Gefangenschaft gerät, treibt es Kroll im größeren Bogen am Rand des Sogs nördlich durch die Stadt und raus aus der tödlichen Gefahr. Anders als Poes Held kann sich Wolf-Dietrich Kroll nicht an die Details erinnern. Ist es Geschick oder – wieder mal – Glück? Der Malstrom von 1945 hat nicht den Mann, aber viele seiner Erinnerungen hinab gerissen. Vielleicht gut so; das Leben geht weiter. Muss es. Macht es. Ausbildung, Beruf, Liebe, Ehe, Kinder. Die Zeit vergeht und deckt zu. Aber es ist da.