Geschichtswanderung Reitwein 1945

 

Neues Format hat das Zeug zum Erfolgsmodell

Von 15 bis 88 Jahren reicht das Alter der Geschichts- und Wanderinteressierten, die sich am Sonntag Vormittag in Reitwein einfinden. Die Gäste aus nah und fern folgen der Einladung des Reitweiner Heiratsmarktes und des Seelower Höhen e.V. „Die Gäste kommen aus Schwedt, Frankfurt, Berlin, aus Chemnitz, Glauchau und Sömmerda“, zählt Gastwirt Franco Kaiser vom Heiratsmarkt und ergänzt: „Die Nachfrage ist so groß – schon nach wenigen Tagen mussten wir die Interessenten auf den nächsten Termin im April verlegen“. Mit den 60 Teilnehmern macht sich Tourenführer Enrico Holland auf den fünf Kilometer langen Rundweg. Auf der von ihm sorgfältig ausgearbeiteten Strecke gibt es Halt an mehreren Punkten. Eine Station ist die „Schöne Aussicht“ am steil abfallenden Ostrand des Höhenzugs. Der Ort wird seinem Namen an diesem Tag voll gerecht. Kilometerweit reicht die Sicht über das Bruch zur Oder und den sanften Hügeln auf polnischer Seite. Details bietet der Blick durch ein zeitgenössisches Scherenfernrohr. „Genau so eins hat Schukow damals auf seinem Gefechtsstand“, erklärt Enrico Holland. Heutigen Besuchern ist der einstige Feldherrenblick am originalen Standort von Bäumen verstellt. Jetzt sind die Äste noch nicht belaubt, was die Seelower Höhen am Horizont in Richtung Westen wenigstens knapp erkennen läßt.

Natur und Historie in 2½ Stunden

Was den einen nichts als erholsame Natur, ist für die Geschichtswanderer dank der von Enrico Holland stets einprägsam und spannend erzählten Hinweise ein ständig lehrreicher Historienpfad. Abrupte Senken entpuppen sich als Granattrichter, wilde Furchen als Reste von Laufgräben, kapitale Löcher als eingefallene Unterstände oder Schutzräume für Militärgerät. Wo es heute und gerade in dieser Jahreszeit mit ihren zahllosen Teppichen von Schneeglöckchen ganz friedvoll aussieht, ist damals buchstäblich die Hölle los: ein brutaler, verlustreicher Kampf um jeden Meter. Der Reitweiner Sporn ist für die Rote Armee wie für die Wehrmacht ein „Schlüsselgelände“. Es zu besitzen, ist Grundvoraussetzung für die spätere Schlacht. Enrico Hollands Ausführungen schärfen den Blick für das heute kaum noch Sichtbare. Und er macht die Dimensionen deutlich. Das „Verdun des Ostens“, ein Begriff den Zeitzeugen prägen, ist nicht aus der Luft gegriffen. Dichte und Anzahl der Einschläge von Bomben und Granaten sind mit der großen Schlacht des Ersten Weltkrieges vergleichbar. Zusammen mit den Gräben und Unterstände hinterlassen die Detonationen den Sporn als zerschundenes, durchlöchertes Stück Erde – auch mehr als 70 Jahre danach für den Kampfmittelräumdienst eine riesige Verdachtsfläche. Nach 2½ Stunden endet der Rundgang auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof von Reitwein und zieht damit die nachdenklich stimmende Bilanz des zuvor Erlebten. Für das eindrucksvolle Gelingen dieser besonderen Geschichtsvermittlung gibt es einen kräftigen Applaus von 120 Händen.
Pünktlich auf die Minute sind die wackeren Wanderer zurück im Heiratsmarkt – ganz zur Freude von Gastwirt Franco Kaiser, der mit einem leckeren Mittagsbuffet aufwartet. Hier ist Zeit zum Ausruhen, Stärken und zum Gespräch über den Fußgang durch die Geschichte.                    Tobias Voigt