„Stahlernte“ Oderbruch 1946

Kleine große Geschichte

Seit sieben Jahrzehnten ist die Schlacht um die Seelower Höhen Teil des Geschichtsbildes. Meist arbeiten Historiker, Politiker und Journalisten an diesem Bild und debattieren über den richtigen Maßstab für die Sicht auf die Vergangenheit. Statt Streit haben Modellbauer eine verblüffend knappe Antwort auf diese bewegende Frage: „Eins zu Fünfunddreißig.“ Passt das auch für das Thema Seelower Höhen? Wir haben mit jemandem gesprochen, der genau das gemacht hat.

Axel Pohle, Jahrgang 1980 und im Berufsleben Stadtplaner in Cottbus, bringt in seiner Freizeit recht komplexe geschichtliche Vorgänge auf ein überschaubares Format. Seine Modellwelten schrumpfen die reale Welt um das Fünfunddreißigfache, doch sie reduzieren ihre Fülle und ihre Facetten nicht – im Gegenteil. Sie sind Miniaturisierungen der Wirklichkeit; die Realität verniedlichen sie nicht.

„Ein Diorama ist, auf relativ engem, begrenzten Raum dargestellt, eine Szenerie, meistens eine bestimmte Zeit, in dem Fall Zweiter Weltkrieg, mit ganz typischen Elementen. Das sind so markante Elemente, dass man eigentlich sofort erkennen sollte, welche Epoche und welche Region das ist.“

So definiert der passionierte Modellbauer, was ein Diorama idealerweise ausmacht. Seit zehn Jahren ist Axel Pohle ernsthaft bei der Sache. Der Ursprung dafür liegt in seiner Kindheit. Mit 12 bastelt er Plastikmodellbausätze zusammen. Der Vater hat einen ganzen Schrank voller alter ‚Russenflieger‘ und führt den Sohn an das Hobby ran. Furcht, der Junior könnte etwas kaputt machen, hat Senior Pohle nicht. Diese sportliche Haltung macht dem Jungen Mut und bald fesseln ihn die Matchbox-Bausätze im Maßstab 1:76, zu denen auch eine kleine landschaftliche Szenerie, ein Diorama gehört.
Da ist sie, die Welt im Kleinen. Axel Pohle fängt bald an, selbst Ruinen zu gießen. Zwischen dieser Zeit und dem Diorama zum Seelower Schlachtfeld liegen Dutzende Modelle, viele Wettbewerbe, so manche Preise. Und es entstehen Verbindungen zu Modellbauern in der ganzen Welt. Die Szene ist breit gefächert, in die Details verliebt und sehr kundig. Modellbauer akkumulieren vor allem eines: Kenntnisse. Sie sind Rechercheure, Arrangeure, Szenenbildner, Feinmechaniker, Chemiker, Materialkundige und, und, und – und hilfsbereit:

„Wenn man da mal Fragen hat; das ist echt irre, was da für Wissen auf der Welt verbreitet ist.“

Seelower Höhen als Miniaturwelt

Seit Axel Pohle mit seinem Vater in den späten 1990er Jahren die Gedenkstätte Seelower Höhen besucht, fasziniert ihn, was mit diesem Ort verbunden ist. Und es prägen sich Anblicke ein, die er viele Jahre später en miniature umsetzten möchte. Das Nachdenken darüber und das Probieren führt ihn zu ganz eigenen Wegen und Entscheidungen. Ein Diorama ist auch immer Verzicht. Der Gewinn dieses Maßhaltens sind Konzentration, Verdichtung und Prägnanz. Weniger wird hier zu Mehr.

„Das hatte ich ziemlich lange im Kopf, besonders das Bild der Brandenburger Allee als stilbildendes Element. Ich hab‘ dann aber sehr schnell gemerkt, dass es zu groß wird. Und so ein Diorama lebt ja wirklich immer davon, dass viele kleine Details relativ kompakt gehalten werden. Dann bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich das mit so ’ner schönen Kopfweide mache. Das ist so ein typischer Baum, der diese Gegend prägt.“

Kopfweiden mit ihren struppigen Kronen und den bizarr verkrümmten, rissigen Stämmen säumen heute wie damals die für das Oderbruch charakteristischen Entwässerungsgräben – in der Schlacht oft unüberwindliche Hindernisse für die vorrückenden Truppen der Roten Armee. Axel Pohle fertigt ein kleines Setup und schaut sich an, wie es funktionieren könnte. Die Szene soll sich dem Betrachter öffnen. Das bestimmt die Komposition. Daher entscheidet er sich letztlich für nur zwei Bäume.

Das ‚Schlachtfeld danach‘ als Herausforderung

Ganz so wie bei seinen anderen Dioramen, will Axel Pohle seinen hohen Anspruch auch diesmal verwirklichen:

„Ich möchte das nicht einfach wegarbeiten, arbeite immer dran, wenn ich Lust habe, denn nur dann kann ich einen bestimmten Qualitätsstandard für mich erreichen. Und mit Ernst meine ich, dass ich nicht einfach nur einen Panzer kaufe, ein bisschen Streugras herumstreue und ein kaputtes Haus dazustelle, sondern dass ich mich wirklich relativ intensiv mit dieser ganzen Umgebung und mit den ganzen markanten Elementen, die letztendlich die Szene ausmachen, beschäftige.“

Für das Seelower Diorama braucht er ein 3/4 Jahr. Das sei schon schnell. Mit der Recherche beginnt 2010 vor Ort in Seelow eine ernste und intensive Beschäftigung mit dem neuen Projekt. Der einstige Ausflug mit dem Vater zur Gedenkstätte ist es wohl auch, der Axel Pohle die Idee einpflanzt, irgendwann mal einen ‚Russenpanzer‘ zu bauen. Warum dann nicht gleich ein Sujet zur Schlacht selbst?

„Das ist so ein Thema; das kommt jetzt in der ganzen Dioramaszene immer mehr; weg von Da-liegen-blutverschmierte-kleine-Plastiksoldaten und von den großen Schlachten hin zur Welt danach.“

Seelow bietet sich hervorragend an, etwas über die Zeit nach dem Krieg zu machen – wie die Landschaft in der Folge aussah, was mit dem liegen gebliebenen Kriegsgerät geschah und dass manches davon in zivile Nutzung kam. In Stahlernte steht das BMW-Beiwagenkrad dafür. Opa und Enkel fahren damit zur Arbeit auf’s Feld. Axel Pohle kennt viele solcher Beispiele. Was dem einen Zündapp- und BMW-Motorrad, das war dem anderen ein NSU-Kettenkrad. Jedes halbwegs zivil nutzbare Kriegsgerät fand bald neue Besitzer. Ausgebrannte Panzer bleiben liegen. Allein ca. 250 sowjetische Tanks stehen nach der Schlacht auf den Feldern vor den Seelower Höhen, viele direkt in der Krume, behindern die Feldarbeit. Mit durchlöcherten Wannen, abgesprengten Türmen und den rußgeschwärzten Flanken sehen sie furchterregend aus. Dabei sind sie lange nicht so gefährlich, wie die tausenden Minen und Blindgänger im Oderbruch, denen viele Feldarbeiter zum Opfer fallen, auch Kinder und Jugendliche. Es dauert Jahre, bis die großen Brocken beseitigt sind. Manches Stück Munition schlummert immer noch in der Erde und selbst heute „ernten“ die Pflüge mitunter Stahl vom Boden des einstigen Schlachtfelds.
Ein vergammelndes Panzerwrack ist für ambitionierte Modellbauer eine viel größere Herausforderung als ein gepflegtes Paradefahrzeug:

„Das Thema verbranntes Metall hat mich stark interessiert – wie so ein Panzer sich darstellen lässt, dass er ausgebrannt ist, und nicht gleich frisch, sondern dass das schon so ein Jahr steht. Es war für mich ein Experiment, Rost so realistisch darzustellen, dass es einigermaßen funktioniert.“

Frischer Rost, alter Rost, Ruß und ein zerstörter Anstrich nach einem Jahr Sonne, Wind und Regen – Modellbauer haben Freude daran, nahezu jeden Zustand visualisieren zu können. Und sie haben viele Mittelchen dafür – käufliche oder selbst gemachte. Die Bandbreite dessen, was der Modellbauhandel bietet, ist enorm. Wer jedoch vor seinem entstehenden Modell sitzt, mischt sich seine Farben, Tinkturen, Spachtelmassen und vieles andere oft selbst.

Große Geschichte(n) als Schlüsselelement(e)

Der Pferdewagen ist das andere inhaltliche und gestalterische Schlüsselelement von „Stahlernte“. Er steht für einen Augenblick, der sich damals hundertfach im Oderbruch zuträgt; ein scheinbar beiläufiger, harmloser Moment, in dem sich große und kleine Schicksale bündeln, ohne mit ausladender Geste daherzukommen. Die Szenerie nimmt Bezug auf die millionenfache Vertreibung von Deutschen aus den deutschen Ostgebieten nach dem Kriegsende. Auf dem Wagen fahren ein alter Mann und ein kleines Mädchen. Jüngere Männer finden sich auf historischen Bildern solcher Begebenheiten kaum. Sie sind als Soldaten im Krieg gestorben oder sind in der Kriegsgefangenschaft, während ihre Verwandten aus der Heimat vertrieben werden. Die Flüchtenden nehmen mit, was ihre Transportmöglichkeiten erlauben: Lebensmittel, warme Decken, Hausrat. Das meiste von Wert bleibt zurück: die Höfe, die Tiere, Möbel. Nicht wenige Flüchtende vergraben ihre Habe auf dem eigenen Grundstück in der Hoffnung, bald zurückkehren zu können. Sie irren sich. Aus Ost- und Mitteleuropa kommen 12 bis 14 Millionen Menschen, bis zum Kriegsende als Flüchtende, danach als Vertriebene. Sie alle haben wenig Zeit, darüber nachzudenken, was sie mitnehmen können und müssen. Der Leiterwagen ist ursprünglich ein ganz normaler Bausatz aus dem Handel. Axel Pohle sucht im Internet nach Bildern, wie Flüchtlingstreks aussehen und was dabei so transportiert worden ist. Er versucht stets Elemente zu finden, die modellbauerisch was hermachen, wie zum Beispiel eine gebogene Matratze:

„BeimModellbau packt man immer Vielfarbiges und verschiedene Materialitäten rein, um die Szenerie möglichst heterogen zu gestalten. .“

Details zum Schauen und Nachdenken

Die modellierten Schäden am Pferdewagen im Diorama zeigen auch dies: bei der Wahl des fahrbaren Untersatzes kann niemand wählerisch sein. Zeit zum Reparieren bleibt nicht; Material dafür gibt es unterwegs keins. So hat der alte Mann das Loch in der Seite des Wagens kurzerhand mit dem großflächigen Schild einer Bahnstation überdeckt, damit seine Ladung nicht herausfällt. Spielte die Szenerie andernorts und in einer anderen Zeit, wäre die Mitnahme eines Ortsschildes eine sentimentale Geste. Dafür haben diese Leute jedoch keinen Nerv. Das Pommersche Gdingen heißt nach dem Ersten Weltkrieg Gdynia und im Zweiten Weltkrieg Gotenhafen. Ist die Hafenstadt an der Danziger Bucht die Heimat oder nur eine Durchgangsstation von Opa und Enkelin? Wo und wie findet der alte Mann das Schild, dass schon ausrangiert gewesen sein muss? Diese und andere Fragen drängen sich dem Betrachter auf, wenn er die Szenerie betrachtet. So schweifen die Gedanken zwischen Detail und Großem Ganzen hin und her. Ein Miniaturschild, ein auffallender Ortsname: Jahrzehnte deutscher und polnischer Geschichte. Solche Wirkung scheinbar abseitiger Details ist beabsichtigt und freut einen Dioramen-Erbauer:

„Es geht halt viel über Grundelemente, die ich mir zusammensuche im Kopf und dann versuche ich da jedes für sich zu sehen und ins Detail zu gehen.“

Axel Pohle macht sich Gedanken über jede Nuance. So, ob die Kutsche in das Bild reingefahren kommt oder heraus. Immer, wenn er eine gute Idee hat, skizziert er sie und schreibt sich das Datum drauf. Diese Skizzen sind das Dreh-Tagebuch des Dioramas. Filmautoren und Regisseure machen es nicht anders. Die haben jedoch die Chance auf sehr viele Bilder. Wer ein Diorama baut, hat nur dieses eine Bild. Besteht da nicht die Gefahr des Überfrachtens?

„Ja, das ist halt je nach Komposition; da liegt’s dann an jedem Modellbauer selbst, ob es Kitsch wird, ob es langweilig wird oder ob eine spannende Geschichte auf kleinem Raum erzählt wird. Ich glaube, dass trifft es ziemlich gut; es geht darum, eine kleine Geschichte darzustellen.“

Bleibt zu Fragen, was der Modellbauer, neben all seiner Erfahrung mit Geschichts-Material und Materialien an sich noch so braucht, für dieses Hobby? Da muss Axel Pohle nicht lange nachdenken und antwortet strahlend, weil er auch das hat:

„Eine verständnisvolle Freundin.“

Tobias Voigt

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