Das Blut im Boden

 

 

 

Ein alter Mann steht mit seinem Enkel im Seelower Museum. Als 17jähriger kämpft er
1945 im Oderbruch. Wir gehen mit den beiden auf Spurensuche.

Karl-Heinz Hinz ist einer von den Jüngsten, die in den Krieg gehen. Es ist August 1944 und freiwillig geht er nicht. Sein Großvater ist Veteran des Ersten Weltkrieges und schärft dem Enkel ein: „Lass Dich nicht totschießen!“ In Cottbus Sachsendorf ist die Kaserne der Division Großdeutschland. Nach dem Krieg wird eine sowjetische Panzereinheit dort stationiert sein, bis zum Zusammenbruch des Kommunismus. Heute sind Behörden in den Gebäuden und eine Hochschule. Karl-Heinz Hinz wird dort Panzerpionier. Die Ausbildung ist hart, wie er sich erinnert. Doch er ist sportlich, ein guter Werfer. Als einziger schleudert er die Handgranate über die Tanne auf dem Übungsplatz. Dafür gibt es den Nachmittag frei. Aufgaben der Pioniere sind Minen legen, Brücken bauen, Sprengen. Sie können vieles. Wie seine Kameraden ist Hinz handwerklich versiert. Dem Bau- und Kunstschlosser sind auch die Schrecken des Krieges nicht unbekannt. Als Schlosser zieht er in Lübeck nach den Bombenangriffen mit seinem Meister los, um Geldschränke in zerstörten Häusern zu öffnen. Dabei sieht er die in der Sommerhitze schnell verwesenden Leichen der Bombenopfer. An der Flak im Hamburger Stadtpark erlebt er „Gomorrha“, die Großangriffe der britischen und amerikanischen Bomber im Sommer 1943.

Pionier an der Oderfront

Am 10. Januar 1945 geht die komplette Einheit direkt aus der Kaserne an die Front. Sie haben Schützenpanzerwagen, „Hetzer“-Jagdpanzer und „Panther“. Der Kommandeur, Oberst Willy Langkeit, gilt seinen Männern nicht als „Verheizer“. Als Befehlshaber der im März 1945 aufgestellten Panzergrenadier-Division „Kurmark“ wird Langkeit nach der Schlacht um die Seelower Höhen die Reste seines Verbandes durch den Kessel von Halbe führen und die Elbe erreichen. Den ersten Fronteinsatz erlebt Karl-Heinz Hinz Ende Januar 1945 bei Reppen, nur 20 Kilometern östlich von Frankfurt/Oder. Geradlinig durchzieht die Verbindungsstraße zwischen den beiden Städten ein großes Waldgebiet. Als Karl-Heinz Hinz ankommt, sieht er bis zu 20 sowjetische Panzer herumstehen – alle abgeschossen. Der junge Panzerpionier steht den ersten Nahkampf durch und er sieht Leichen, die den Weg säumen. Es sind Zivilisten, Flüchtlinge – offensichtlich ganz bewusst mit Panzern überfahren. Den jungen Soldaten packt die Wut auf den Gegner. Den Veteran bewegt die Frage nach dem Warum der Schrecklichkeiten, auch denen der eigenen Seite. Sein Enkel steht dabei, ein junger Mann Mitte zwanzig. Genau dass richtige Alter, um Fragen zu stellen und um Antworten zu verstehen. Es ist ein Privileg, um dass ihn viele beneiden mögen, deren Großväter ungefragt und sprachlos bleiben. Deren Erzählung nie jemand gehört hat, um sie weitertragen zu können. Er begleitet seinen Großvater auf dessen Reise in die Vergangenheit. Der fast 90jährige kehrt an die Stätten zurück, an denen er seine Jugend verloren hat. Vor einem Vierteljahrhundert macht er das schon einmal, als es nach dem Fall der Mauer für ihn zum ersten Mal möglich ist. Und er macht es jetzt, weil es für ihn vielleicht zum letzten Mal möglich ist. Karl-Heinz Hinz geht langsam, gebeugt und stützt sich dabei auf den Stock. Er macht Pausen, muss stehen bleiben, sich aufrichten, umsehen. „War das hier, oder weiter drüben?“ Wir stehen in zwei Wäldern. In dem einem sind Bäume. In dem anderen sind Karl-Heinz Hinz‘ Erinnerungen.

 

Panther-Angst

Der Weg der deutschen Soldaten führt 1945 nur noch nach Westen. Über Frankfurt/Oder nach Lebus, in das letzte Haus am Nordrand des Ortes. Seine Bewohner sind nicht mehr da. Erschöpft werfen sich die jungen Soldaten in die frischen Betten. Während seiner Dienstzeit bekommt Karl-Heinz Hinz 14 Pakete von seinen Eltern. Die Deutsche Post funktioniert. Mehr als zwei Pfund Gewicht pro Paket sind nicht erlaubt. Kuchen kommt, und Wurst. „Wir wohnten auf dem Land.“ Seine Kameraden mit Familien in den zerstörten Städten haben das nicht. Er teilt gern. Die Zigaretten schickt er dem Vater. Der sendet Schokolade. Zu essen gibt es bis zum letzten Tag. In der Kaserne in Cottbus sogar jeden Morgen eine Milchsuppe. Selbst an der Front müssen sie meist nicht auf gekochtes Essen verzichten. Oft ist es „eine undefinierbare Suppe mit Brot“. Von ‚es schmeckt‘ bis ‚genießbar‘ ist alles dabei. Im Kampf haben sie Notverpflegung: Kekse, Hartbrot, und Schokakola als Reserve. Als Panzerpioniere werden sie immer dort eingesetzt, wo eine Lücke ist. Sie hören damals, wie schlimm es in Klessin und Wuhden ist. Sie hören von Reitwein. Dort sei ein Lager für Wehrertüchtigung gewesen, die Jungs im Schlaf überrannt – alle tot. Bei der Ausbildung in der Kaserne haben sie einen alten „Russlandkämpfer“. Er lehrt sie, die Geschosse am Geräusch zu unterscheiden, anhand des Abschusses und des Fluges. „Jungs, der ist weit weg!“ oder „Und jetzt schmeißt euch hin!“ Wenn sie nachts die eigenen „Panther“ hören, haben sie Ruhe. „Vor denen hatten die Russen Angst.“ Die Hightech-Tanks schießen punktgenau. Es sind wenige, aber sie sehen perfekt aus. „Da war alles poliert. Deswegen haben wir den Krieg verloren!“ Karl-Heinz Hinz schüttelt den Kopf dabei und lacht bitter. Wie schlecht die Volkssturmmänner in Lebus bewaffnet sind, entgeht ihm nicht. Die vier „Panther“ fahren die Straße rauf und runter. Das macht Lärm und lässt den Gegner denken wunder was die Deutschen für Kräfte haben.

 

Der Tod bei Reitwein

Sie verlegen südlich in Richtung Podelzig. In der Nähe des Bahndamms, der über den Reitweiner Sporn verläuft, graben sie sich im Wald ein. Der Bahndamm ist die Frontlinie. Wir suchen mit Karl-Heinz Hinz die Stelle, wo er 1945 auf Horchposten liegt. Bewaffnet ist er mit zehn Handgranaten, einer MPi 40 und einer Leuchtpistole. Im Umkreis gibt es Stolperdrähte und Minen: „Wir waren ja Pioniere!“ Die Maschinenpistole hat er nur für den Horchposten. Seine Standartwaffe ist der Karabiner 98k. Zum Isolieren gegen die Kälte von unten legt er Laub auf den Boden seines Schützenlochs, darüber die Zeltbahn und hüllt sich in seinen Mantel. An Schlaf denkt er nicht. Der Feind ist zu nah: „Es sind Leute erschossen worden, während sie ihr Geschäft verrichtet haben.“ Sowjetische Spähtrupps kidnappen eingeschlafene Posten. Ein lebender deutscher Gefangener ist eine wichtige Informationsquelle. Als sich am Fuß des Sporns entlang eine Gruppe Rotarmisten nähert, hört Karl-Heinz Hinz den Gegner; sehen kann er ihn kaum. Er sitzt in seinem Loch 80 Meter vor den deutschen Linien, versteckt im Wald, mit Blick auf das Feld. Dann reißt die Wolkendecke auf. Im hellen Mondschein sind die sich anschleichenden Soldaten plötzlich gut zu erkennen – sechs Mann. Er schießt. Davon alarmiert, feuern seine Kameraden von weiter hinten über ihn hinweg in die gleiche Richtung. Er lässt sich in Deckung fallen. Als es vorbei ist, sind drei Gegner tot, die anderen drei verschwunden und Karl-Heinz Hinz ist fertig. Noch heute kommen ihm die Tränen. „Ich habe Menschen erschossen.“ Einem der Verwundeten, einem Leutnant, möchte er etwas zu trinken geben. Fairness. Das kennt er von seinem Boxsport. Es sind die ersten Gefangenen, die er sieht. Jemand schlägt ihm die Feldflasche aus der Hand. Plötzlich sind allerlei Uniformierte da, die er noch nie gesehen hat. Die Gefangenen sollen verhört werden. Es ist der 10. Februar 1945 am nordwestlichen Rand des Reitweiner Sporns. Was mit den gefangenen Rotarmisten geschieht? „Das kriegt man nicht mit als junger Mensch. In Podelzig waren die Leute noch da.“

 

Leben in Löchern

Insgesamt eine Woche liegen sie dort, „im Dreck, ungewaschen“. Ihre Kompanie hat nur leichte Waffen, drei Mann einen Granatwerfer, Maschinengewehre, Karabiner. Ihm kommt es so vor, als wäre es „auf der anderen Seite“ ähnlich. Was sich tatsächlich beim Gegner zusammenbraut, ahnen sie kaum. Nahe Podelzig sind sie ca. eine Woche. Tage vergehen, ohne dass irgendetwas passiert. Über die Bahnlinie hinweg beäugen sich die Gegner, achten auf jedes Geräusch. Dann geht es ein/zwei Kilometer zurück Richtung Westen. Sie machen Stellung in der schon damals lange verlassenen Zuckerfabrik. Heute sind die Reste völlig überwuchert. Umgrenzt von den Überbleibseln, steht ein gepflegtes Grundstück. Die Bewohner, ein älteres Ehepaar, sind hilfsbereit. Wir dürfen nach der Stelle suchen. Mit ihrem Wissen und dem des Veteranen nähern wir uns der Geschichte. Was heute Dickicht ist, steht damals als Ruine da, neben verstreuten kleinen Höfen. Sie liegt zwischen kahlen Feldern und direkt an der Straße, die von Lebus nach Süden durch das Oderbruch führt. Nach der Deckung des Waldes liegen die Soldaten jetzt wie auf dem Präsentierteller. Karl-Heinz Hinz wählt den Rest einer Mauerecke als Schutz. Vergeblich.

 

 

Lebend aus dem Krieg

Die Roten Armee greift nachts über die leicht mit Schnee bedeckten Felder an. Tagsüber wäre das glatter Selbstmord. Es ist der 03. März 1945. Der Kniesteckschuss ist heute noch drin, sagt Karl-Heinz Hinz. Das erklärt seinen Stock anders, als es allein sein Alter tun würde. Er trägt 72 Jahre lang den Krieg immer bei sich. Das und der Splitter einer sowjetischen Granate in der rechten Wade sind es, die ihn aus diesem Krieg herausbringen. Vor Ort in der Zuckerfabrik gibt es keine Wundversorgung. Mit dem Lkw geht es nach Müncheberg. Auf der Ladefläche unter ihm liegen die Toten, einer davon sein Gruppenführer. Nach dem Lazarett in Müncheberg, in einer Schule, geht es per Lkw nach Fürstenwalde. Ein Sanitäter, der ihn fragt, ob er eine Betäubung braucht, hört seinen Dialekt: „Du bist aus Lübeck? Dann kannst Du das ab!“ Er schneidet ihm die Fetzen um die Wunde ohne Betäubung weg. Einen feindlichen Stoßtrupp erledigen, Stellung halten, Verwundung – der 17jährige ist jetzt ein Held. Die Urkunde für das EK II geht an seine Eltern, unterschrieben von Oberst Langkeit Mitte März 1945. Karl-Heinz Hinz hat heute das Original dabei. Mit dem Zug geht es nach Bad Reichenhall in Bayern, vom Krieg ins Kurbad. Dort gibt es das Verwundetenabzeichen. Vier Wochen Ausheilen, eine davon mit Wundstarrkrampf, dann „mit dem letzten Zug“ von Magdeburg nach Lübeck. Als die englischen Besatzungssoldaten kommen, ist er zu Hause. Sie nehmen ihn nicht mit. Er sieht ihnen zu jugendlich aus.

 

 

Rückkehr

Wir stehen auf Trümmern. Auf Resten roter Backsteine, die mal Mauern waren, lange her. Überwachsen von Moosen und Unkraut. Zwischen unzähligen dürren Bäumchen, deren Blätterwerk das Sonnenlicht dämpft. Ein schattiges Plätzchen, ewig feucht. Karl-Heinz Hinz wankt über die lockeren Steine, stützt sich auf seinen Stock. Wir stützen ihn. Es ist zu merken, dass er nicht nur deswegen Halt sucht. Hier ist es. „Hier habe ich einen Dreiviertelliter meines Blutes verloren.“ Er wirkt ergriffen, nachdenklich, braucht Ruhe. Wir haben Frieden und alle Zeit der Welt.

 

T.Voigt

 

Bilderreihe